Tagelang campierten rund 100 Menschen in der Zionsgemeinde in Bremen, um die Abschiebung eines Somaliers aus dem Kirchenasyl zu verhindern – mit Erfolg. Pastor Thomas Lieberum macht sich trotzdem Sorgen.
Es ist eine uralte Tradition: In heiligen Stätten können verfolgte Menschen Zuflucht finden vor der staatlichen Gewalt. Auf dieses Prinzip und auf die christliche Nächstenliebe berufen sich die Kirchen beim Kirchenasyl. Doch in den vergangenen Monaten versuchen die Behörden immer öfter, dieses zu brechen, so auch vergangene Woche in Bremen. Rund 100 Menschen haben sich vor der Zionsgemeinde in Bremen-Neustadt der Polizei entgegengestellt und die Abschiebung eines 25-jährigen Somaliers verhindert. Ein Gespräch mit dem Pastor der evangelischen Gemeinde, Thomas Lieberum.
SZ: Herr Lieberum, in der Nacht zu Samstag ist die Überstellungsfrist für den Somalier bei Ihnen im Kirchenasyl abgelaufen. Kann er die Kirche jetzt verlassen?
Thomas Lieberum: Zunächst sah es nicht so aus. Innensenator Mäurer hatte beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragt, dass die Überstellungsfrist um ein Jahr verlängert wird. Dann hätte der junge Mann noch ein ganzes Jahr bei uns bleiben müssen. Aber gestern hat das Bremer Verwaltungsgericht einem Eilantrag stattgegeben und diese Verlängerung bis zur Hauptverhandlung ausgesetzt. Er darf also jetzt raus aus den Kirchenräumen.
Wie geht es dem Geflüchteten jetzt?
Nach der Gerichtsentscheidung war Herr I. sehr glücklich. Wir waren gestern Abend mit ihm in einem Lokal hier um die Ecke, und er hat alle umarmt, immer wieder „Danke, danke“ auf Deutsch gesagt. Für ihn persönlich freue ich mich wirklich sehr. Ich blicke aber gleichzeitig mit Sorge auf die anderen Kirchenasyle in Bremen. Ich fürchte, dass der Innensenator jetzt insgesamt schärfer vorgehen wird.
Mit welcher Begründung hatte er eine Verlängerung der Überstellungsfrist beantragt?
Angeblich, so schreibt der Innensenator, sei I. flüchtig gewesen. Da wird argumentiert, er sei nicht in seinem Zimmer gewesen, sondern im Kirchraum bei uns im Gemeindezentrum. Aber das liegt alles in einem Haus. In meinen Augen wurde da eine Fluchtgefahr konstruiert.
Der Geflüchtete wurde in Finnland zuerst registriert und müsste dorthin zurück – was ist denn an Finnland so schlimm?
Ich habe in Finnland schon Urlaub gemacht, das ist ein schönes Land. Aber Herr I. ist über Russland eingereist und ist dann an der Grenze hin- und hergeschoben worden. Es ist zu Pushbacks gekommen. Die Finnen haben ihm gesagt, wir schicken dich sofort nach Russland zurück, deshalb ist er nach Deutschland weiter geflohen. Wir haben die Erfahrung, dass Finnland auch zurück überstellte Geflüchtete nach Russland schickt, und was dort dann mit ihnen passiert, das weiß niemand.
Zuletzt sind auffällig viele Kirchenasyle geräumt worden.
Ich nehme das auch wahr. Gerade auch SPD-regierte Bundesländer versuchen immer öfter, das Kirchenasyl zu brechen. Vielleicht glaubt man so, Wählerstimmen zu gewinnen. Ich finde das unmenschlich. Geflüchtete sind in den Augen der Kirche Geschöpfe Gottes, Menschen wie du und ich, Menschen in Not.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat 2015 mit den Kirchen vereinbart, dass es das Kirchenasyl als Ultima Ratio toleriert und Härtefälle erneut prüft. Aber wenn es dann ablehnt, muss abgeschoben werden, oder?
Die Vereinbarung sieht vor, dass wir als Kirchengemeinde ein entsprechendes Dossier ans Bamf schreiben müssen. Die Vereinbarung beinhaltet aber nicht – anders als das Bamf und auch Herr Mäurer es immer behaupten –, dass bei Ablehnung des Härtefall-Dossiers das Kirchenasyl beendet werden muss. Wir Kirchen haben so etwas nie unterschrieben. Inzwischen werden fast alle Dossiers abgelehnt.
Sie haben in der Nacht zum vergangenen Dienstag, als die Polizei vor der Tür stand, die Kirchenglocken läuten lassen. Das hat der Innensenator zynisch genannt.
Zynisch finde ich, dass der Innensenator mitten in der Nacht einen jungen Menschen aus dem Kirchenasyl holen will. Wir haben die Glocken geläutet, um auf unsere Not aufmerksam zu machen, und wenigstens in dieser Nacht haben die Kirchenglocken Herrn I. gerettet.
Wie geht es jetzt weiter?
Bei uns leben noch weitere Geflüchtete im Kirchenasyl, auch diese werden wir beschützen. Ich fühle mich sehr getragen von meiner Gemeinde, wir werden unterstützt von den Eltern unserer Konfirmandinnen und Konfirmanden, von 70-, 80-jährigen Gemeindemitgliedern, Bürgerinnen und Bürgern aus dem Viertel. Am Sonntag im Gottesdienst war die Kirche brechend voll. Ich habe gepredigt über die Ehebrecherin aus dem Johannes-Evangelium.
Was hat diese Geschichte mit dem Kirchenasyl zu tun?
Die Pharisäer sagen, das Gesetz schreibt vor, dass die Ehebrecherin gesteinigt werden muss. Jesus sagt dann diesen einen Satz: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Er sagt nichts gegen die Gesetze! Aber er nimmt eine andere Perspektive ein. Nichts anderes versuchen wir als Kirche mit dem Kirchenasyl. Auch wir stehen nicht über dem Gesetz. Aber wir versuchen, für den einzelnen Menschen in Not eine andere Perspektive zu schaffen.