Stell dir vor, du könntest in der Zeit reisen…
Stell Dir vor, du könntest in die Vergangenheit reisen und dich mit ganz normalen Leuten unterhalten.
Was würden sie über ihren Stadtteil erzählen?
Was würdest du erfahren über die Kirchengemeinde?
Was von dem, was für dich „immer schon so“ war, ist für sie noch ganz neu?
Wir gehen auf eine Zeitreise und lernen Fisch-Frieda und ihre Kinder und Kindeskinder kennen.…
Herzlich willkommen in der Kirchengeschichte der Neustadt!
Fisch-Frieda und die allererste Kirche in der Neustadt
Wir schreiben das Jahr 1630.
Fisch-Frieda ist Neustädterin und Fischhändlerin, wie schon ihre Mutter zuvor und deren Mutter und deren Mutter. Es sind keine guten Zeiten. Der Dreißigjährige Krieg tobt. Um die Neustadt herum hatte man Befestigungsanlagen gebaut, damit die wilden Rotten nicht in die Stadt einfallen konnten.
Fisch-Frieda ist eine gläubige Christin. Sonntag für Sonntag geht sie in den Gottesdienst nach St. Martini. Das ist ihre Kirche, ihre Gemeinde. Dort gehört sie hin – schon immer. Aber die Neustadt wird größer in jenen Jahren und so richtet man 1639 ein neues Kirchspiel ein.
„Pffff….“, denkt Frieda. „So’n neumodischer Krom. Nich‘ mal ne‘ rüchtige Körche.“ Auf ein umgebautes Wohnhaus setzt man einen Dachreiter und nennt das Ganze dann St. Pauli. Da will Fisch-Frieda nicht hin. „Viel zu klein. Kenn ich nich. Will ich nich. Martini ist viel schöner…“
Fisch-Frieda und die zweite neue Kirche kommt
Knapp 50 Jahre später, wir schreiben das Jahr 1682, lebt die Enkeltochter von Fisch-Frieda.
Auch diese Fisch-Frieda ist Neustädterin und Fischhändlerin. Eine fromme Frau. Immer war ihre Familie in die kleine St. Pauli-Kirche gegangen. Fisch-Friedas Eltern hatten dort geheiratet, ihre Kinder getauft, Menschen beerdigt…
Doch nun dräuen Veränderungen. Eine neue Kirche soll bezogen werden. Christine Graevaeus, die reiche Witwe eines Bremer Ratsherren, hatte genau dafür eine Erbschaft hinterlassen. Eine echte Kirche soll es werden. Die erste echte Kirche in der Neustadt.
Fisch-Friedas Eltern mosern herum. „Tipptopp in Schuss ist die alte Kirche. Nicht nötig, so‘n neuer Bau. Und streng sieht sie aus. So schlicht und weiß und streng. Kein Schnörkel, kein Jesus am Kreuz. Nee, nee, nee…“ Fisch-Frieda dagegen findet das alles sehr spannend. Wann erlebt man das schon mal, dass eine neue Kirche gebaut wird? Hier. In der Neustadt.
Fisch-Frieda und die Schweine in der Neustadt
100 Jahre später, wir befinden uns im Jahr 1785, lernen wir Fisch-Friedas Ururur-Enkelin kennen: Sie ist Neustädterin und – genau – Fischhändlerin. Die Neustadt ist groß geworden und hat einen eigenen kleinen Roland. Auf dass die Neustadt nicht Bremens Stiefkind bleibt.
Die Neustädter haben Bürgerpflichten, aber keine Bürgerrechte – und nur deshalb kann geschehen, was Fisch-Frieda fürchterlich empört:
Die Ratsherren finden, dass der Schweinemarkt auf dem Domshof entsetzlich stinkt. Er stört die hohen Herren. Und sie verlegen den Schweinemarkt kurzerhand auf den Neuen Markt. Sollen die Schweine doch in der Neustadt grunzen und stinken.
Fisch-Frieda, die alte Neustädterin, tobt vor Zorn – aber sie kann nichts machen. Solche Macht haben die Bremer Ratsherren.
Fisch-Frieda und das Bier in der Neustadt…
Die Neustadt blüht und wächst. Im Jahr 1865 lernen wir eine weitere Fisch-Frieda kennen. Sie ist Neustädterin und – na klar – Fischhändlerin.
Allerdings hat diese Frieda der Kirche den Rücken zugekehrt. Die Leute von der St. Pauli-Gemeinde gehen ihr auf die Nerven. Sie helfen Obdachlosen und Menschen, die Schwierigkeiten haben. Und – naja – Fisch-Frieda hat so ihre Schwierigkeiten.
„Oller Suffkopp“ – so nennt ihre Mutter sie. Angefangen hat alles ganz harmlos. Fisch-Frieda freute sich, dass die Neustadt im Kommen ist. Industrie siedelt sich an: Kaffee, Schokolade, Zigarren und – 1857 – die St. Pauli-Brauerei mit ihrem Verkaufsschlager, dem St. Pauli-Girl. Ein köstliches Bier. Und eben weil sich Fisch-Frieda so sehr über den Aufschwung der Neustadt freut, stößt sie mit ihrem Lieblingsbier immer wieder auf das Wohl der Neustadt an.
Und eben deshalb kam es zum Bruch mit der Kirche. Diese Leute wollen ihr die Flasche aus der Hand nehmen. Zu ihrem eigenen Wohle. „Nix!“, sagt Frieda. „Die Neustadt verändert sich. Aber Fisch-Frieda bleibt Fisch-Frieda!“
Fisch-Frieda und die großen Veränderungen
Es gehen 20 Jahre ins Land und die Dinge verändern sich – alles wird größer, komplizierter. Das Buntentorviertel ist eingemeindet, die Kornstraße wirkt nun auch schon richtig städtisch. St.Pauli hat für die Stadtmission ein Herz und emsige Ehrenamtliche. Die Töchtergemeinden von St. Pauli werden gegründet. 1884 ist das Jakobi. Und dann Zion. Und dann Hohentor.
Plötzlich trifft sich die Familie von Fisch-Frieda, die Tochter von der mit dem „Suffkopp“, nicht mehr jeden Sonntag in Pauli, sondern alle gehen woanders hin. Und wenn sich die Familie dann trifft, dann wird es schwierig. „Unser Pastor, der ist richtig gut“, sagen die einen. „Kann ich mir nicht vorstellen – dieser Hänfling. Unser Pastor, der hat was zu sagen! Jawohl!“ „Euer Pastor? Der hat ja nich‘ mal Frau und Kinder. Was soll der schon zu sagen haben…!“
Dann reden sie über die Kirchen, welche schöner ist, höher, besser. Welcher Pfarrgarten ungepflegter ist. Wie hochnäsig oder verlottert die Leute sind, die hier oder dort ein- und ausgehen. Fisch-Frieda mag diese Gespräche nicht. Sie fragt sich immer, ob es nicht besser wäre, gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Aber diese Zeiten sind wohl leider vorbei…
Die rote Frieda und die Räterepublik
Das Jahr 1914 – wir lernen die rote Frieda kennen. Sie ist Neustädterin und Fischhändlerin. Kommunistin mit Leib und Seele. Kirche ist nichts für sie. Viel zu sehr hat die sich eingelassen mit Krieg und Kaiser. Die rote Frieda ist Stammgast in Friedrich Eberts Bierhalle in der Brautstraße. Er hat als Sozialdemokrat ein Bürgerschaftsmandat der 4. Klasse erlangt. Die Welt ist im Wandel.
Fisch-Frieda liebt die heißen Diskussionen mit den Männern in der Bierhalle und mit den Frauen auf dem Neuen Markt. Streitet um das Frauenwahlrecht. Wettert gegen den Krieg, auch gegen ihren Friedrich Ebert, der leider, leider jüngst den Kriegskrediten zugestimmt hatte. Sie betrauert die Toten, die eben noch am Tisch saßen und St. Pauli-Girl tranken.
Die rote Frieda ist ganz vorne mit dabei, als 1918 die Soldaten-Meuterei in der Kaserne am Neustadtswall beginnt, als auf dem Neuen Markt, rund um die St. Pauli Kirche, gekämpft wird und ihr die Gewehrkugeln um die Ohren sausen. Als die Räterepublik ausgerufen wird. Die rote Fahne weht sechs Wochen am Bremer Rathaus. Dann wird dieser Weg in eine bessere Welt beendet. Bis zu Fisch-Friedas Tod müssen sich ihre Töchter und Enkeltöchter anhören, wie wichtig das Frauenwahlrecht ist.
Bis zu ihrem Tod erzählt die rote Frieda auch davon, wie köstlich das St. Pauli-Girl war und wie traurig es ist, dass Beck & Co die Produktion mit der Übernahme der Brauerei eingestellt hat.
Fisch-Frieda und der Zweite Weltkrieg
Die Fisch-Frieda dieser Generation ist schweigsam. Eine Tochter der roten Frieda ist sie, und doch wieder eine Kirchgängerin geworden. Die Familie hat sich über die ganze Neustadt verteilt.
Über die Zeit 1933-1945 haben sich in der Neustadt viele Mythen gelegt. Die einen sagen so, die anderen so über das Verhalten der Gemeinden im Dritten Reich. Fisch-Friedas Familie zerkrachte sich in diesen Jahren immens. Besonders zwischen Pauli-Leuten und Zions-Leuten kam es zu heftigen Auseinandersetzungen.
Fisch-Frieda ist wortkarg – auch im Nachhinein. Sie steht oft vor den zerbombten Kirchengebäuden und sagt: „Tscha – mit Ruhm bekleckert ham sich die wenigsten. Paar Helden gab es. Die meisten waren blinde Schweiger, wie du und ich.“
Fisch-Frieda und schon wieder eine neue Kirche
Wir schreiben das Jahr 1967.
Moderne Gemeindezentren sind gebaut worden. Architekt Schröck versuchte sich an Zion mit Theatersaal und Kirche oben drüber. Architekt Noltenius ganz ähnlich – mit großem (Kirch-)Saal im ersten Stock in St. Pauli.
Fisch-Frieda ist 14 Jahre alt und sie ist sauer. Ihre drei großen Geschwister wurden alle schön gemütlich in diesem Saal konfirmiert. Elf Jahre lang wurden dort Gottesdienste gefeiert. Und Fisch-Frieda will dort auch konfirmiert werden. So wie immer soll es sein. Im Saal! Aber nein, gerade jetzt wird diese neue St. Pauli Kirche fertig: topmodern, weiß, grau und Backstein-rot, groß, mit einem Fisch an der Eingangstür. Der soll sie wohl versöhnen mit dem Betonbau, aber Fisch-Frieda mag die Kirche nicht. Sie mag den hölzernen Saal, der wie ein Tanzsaal wirkt. Überhaupt soll sich an ihrer Gemeinde nichts verändern!
Fisch-Frieda zwischen Parzellen und Neubaugebiet
Etwa zur gleichen Zeit, zwei Jahre zuvor, hatte Fisch-Friedas Tante noch eine Parzelle in der Gartenstadt Süd. Dieses Grundstück musste sie abgeben, denn dort sollte ein neuer Stadtteil entstehen. Wohnungen für 10.000 Menschen. Ausgebombte oder Geflüchtete aus dem Osten und mitten drin auch ein neues Gemeindehaus.
„Is‘ gar nicht schlümm“, denkt die Tante, vom Typ her eher stoisch – und auch etwas beseelt, was die Entschädigung angeht. „Lang genug den Rücken krumm gemacht für die Kartoffeln und Bohnen! Is alles wieder in den Geschäften zu haben, brauch’ ich nicht mehr in der Erde buddeln! Mal gucken, was kommt.“
Und da kommt einiges, z. B. die recht große Kirche Matthias-Claudius. Ihre Nichte, Fisch-Frieda, zieht gegenüber ein, bringt ihre Kinder in den netten Spielkreis der Gemeinde. Tantchen ist im Großen und Ganzen recht zufrieden mit dem, was da auf ihrer ehemaligen Parzelle passiert.
Dreimal Fisch-Frieda und die Fusion….
2011 – wir schreiben das vorerst letzte Kapitel unserer Fisch-Frieda- Kirchengeschichte.
Fisch-Frieda und ihre Schwestern sind Neustädterinnen. Die drei sind Mitglieder ihrer Gemeinde – in St. Pauli, Zion und Matthias Claudius, die jetzt Vereinigte Ev. Gemeinde Bremen-Neustadt heißt.
Die Älteste trauert ihrer Kirche Matthias-Claudius nach. Dort wurde sie getauft, konfirmiert, hat geheiratet. Fisch-Frieda versucht ihre große Schwester immer aufzumuntern: „Ach Mönsch – so ein schöner Kindergarten. Und ein Café, endlich ein Café im Stadtteil.“ Und die Ältere mag das Café auch und die Kinder und das Rondell und dass alles so hübsch offen ist. Aber trotzdem. Veränderung tun manchmal weh.
Fisch-Frieda dagegen musste sich sehr daran gewöhnen, dass das Gemeindebüro nur noch an einem Ort zu finden war. Das fand sie ziemlich unpraktisch. Aber da wusste ihre jüngste Schwester einiges zu sagen. „Das ist doch der Witz einer Fusion, dass man Arbeitskräfte bündelt. Und dann kann man sich auch vertreten und kennt den anderen.“ „Trotzdem“, denkt Fisch-Frieda, „Veränderungen sind anstrengend. Stimmt allerdings: seit der Fusion ist dieser nette Küster mit Bart auch mal im Urlaub. Vorher war der nie weg. Vertretungen sind schon eine feine Sache.“
Die jüngste Schwester findet es total spannend, dass alle drei Gemeindezentren sozial engagiert sind. Ist vorher nie aufgefallen. Als würden sie jetzt einander noch anstecken. Überall sind die Türen offen, gibt es was zu essen, Kaffee. Gute Ansteckung für eine Kirche, sagt Fisch-Frieda, die Neustädterin.